Es reicht nicht mehr, Tische und Stühle in Räume zu stellen.

Es reicht nicht mehr, Tische und Stühle in Räume zu stellen.

Interview mit Frederik Flötotto,
CEO FLÖTOTTO Einrichtungssysteme GmbH.

Das Interview führte Thomas Laqua.

es reicht nicht mehr tische und stuehle raeume zu stellen

HERR FLÖTOTTO WOHER KOMMEN SIE GERADE?

Ich bin heute Vormittag aus Tschechien zurückgekommen. Dort haben wir vor
wenigen Monaten ein neues Werk für die Möbelfertigung in Betrieb genommen.
Neben Möbeln für das Lernen in all seinen unterschiedlichen Facetten fertigen
wir dort auch für den maßgeschneiderten Innenausbau im Bildungsbereich.
Anders als in Deutschland ist der Anteil weiblicher Kolleginnen mit ca. 80 Prozent
dort sehr hoch, was sich auch in der extrem geringen Fehlerquote positiv bemerkbar
macht. Mit der neuen Fertigung ergänzen wir unsere Endmontage, Qualitätskontrolle
und Logistik hier in Gütersloh. Diese Nähe und Unabhängigkeit kommt uns bei den
weltweiten Störungen der Lieferketten, wie wir sie derzeit erleben, natürlich sehr entgegen.

Wissenschaftliche Erkenntnisse, Flexibilität und Kombinierbarkeit in
Funktion und Anordnung sind Themen, die wir in der täglichen Arbeit verfolgen.


IN DEN 50ER- UND 60ER-JAHREN HAT FLÖTOTTO WEGWEISENDE SCHULMÖBEL WIE
DEN FORMSITZ-SCHULSTUHL ENTWICKELT, DER SICH MEHR ALS 21 MILLIONEN MAL
VERKAUFT HAT. WO STEHT FLÖTOTTO HEUTE?

Ja, da haben Sie recht. Darauf werde ich immer wieder angesprochen. Aber wir ruhen
uns nicht auf den Erfolgen der Vergangenheit aus. Ergonomische Gestaltung, hohe
Verarbeitungsqualität und belastbare, haptisch angenehme Materialien sind auch heute
bestimmende Themen in unserer Produktentwicklung. Sie kennzeichnen auch unseren
verantwortungsvollen Umgang mit den eingesetzten Ressourcen. Aber wir wollen deutlich
mehr. Wissenschaftliche Erkenntnisse, Flexibilität und Kombinierbarkeit in Funktion und
Anordnung sind weitere Themen, die wir in der täglichen Arbeit verfolgen. Dies schafft die
notwendige Investitionssicherheit für unsere Kunden, die heute oft nicht wissen können, wie
sie unsere langlebigen Möbel in 5, 10 oder mehr Jahren nutzen werden. Doch vor allem die
Rahmenbedingungen und Prozesse, in denen wir inhaltlich an für die Nutzerinnen und Nutzer
relevanten Produkten und Einrichtungskonzepten arbeiten, haben sich total verändert.
Die Geschwindigkeit, mit der sich die Anforderungen des Lernens an uns verändern, ist
nicht mehr mit den 50er- oder 60er-Jahren vergleichbar.

Die Gesellschaft in Deutschland hat in den letzten Jahrzehnten in vielen Bereichen
gegen die Interessen der Kinder und Jugendlichen gehandelt.

WAS MEINEN SIE DAMIT?

Wenn wir an die Klimakrise, den Verlust an Biodiversität, den demografischen Wandel, die
Digitalisierung und andere Herausforderungen denken, stellen wir fest, dass die Gesellschaft in
Deutschland in den letzten Jahrzehnten in vielen Bereichen gegen die Interessen der Kinder und
Jugendlichen gehandelt hat. Die junge Generation wünscht sich berechtigterweise eine sichere
und lebenswerte Zukunft auf diesem Planeten. Was wir ihr als Ausgangsposition für den Start in
ein möglichst selbstbestimmtes Leben bieten, ist eine Welt, die geprägt ist durch Volatilität, Unsicherheit,
Komplexität und Ambiguität. Jeder Schülerin und jedem Schüler sollte dem individuellen Potenzial entsprechend
selbstverständlich ein stabiles akademisches Fundament in der Schullaufbahn ermöglicht werden.
Aber das alleine reicht nicht mehr, um fit für die Zukunft zu werden.

Die reine Vermittlung und Bewertung abprüfbaren Wissens kann nicht mehr die Kernaufgabe von Schule sein.

Was gehört denn noch zu dieser grundlegenden Ausrüstung?

Dazu gehören neben den Fähigkeiten zu lesen, zu schreiben und zu rechnen auch datenbezogene und digitale Literalität, physische und geistige Gesundheit sowie soziale und emotionale Skills.
Aber immer wichtiger wird die Kompetenz, resilient mit Veränderungen umzugehen. Die Kinder und Jugendlichen sollten lernen können, selbstständig durch für sie unbekanntes Terrain zu navigieren und ihren Weg auf sinnvolle und verantwortungsbewusste Weise zu finden, anstatt einfach nur festgelegte Anleitungen oder Anweisungen ihrer Lehrpersonen zu befolgen. Die reine Vermittlung und Bewertung abprüfbaren Wissens kann nicht mehr die Kernaufgabe von Schule sein. Es wird immer stärker darum gehen, Kinder und junge Menschen darin auszubilden, mit dem überall zur Verfügung stehenden Wissen kritisch umzugehen, indem man es einordnen und bewerten kann. Unser Ziel sollten Schulen sein, die Schülerinnen und Schüler mit Freude und Neugier auf ein „lebenslanges Lernen“ vorbereiten. Otto Herz nennt es:
„Im Leben lernen, im Lernen leben.“ Es wird stärker darauf ankommen, wie Inhalte in Schulen vermittelt werden, und nicht darauf, was im Detail genau dazugelernt wird.

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Polstermöbel der ACTIVE-Kollektion

DAS KLINGT NACH EINER SCHULREVOLUTION. KÖNNEN SIE DAS GENAUER ERKLÄREN?

„Schule ist für mich ein Ort, der das Gelingen ermöglicht und nicht das Scheitern dokumentiert.“
Auch dieses Zitat ist von Otto Herz und trifft es ganz gut. FLÖTOTTO ist heute ein relevanter
Entwicklungspartner von Schulträgern und täglich in intensivem Austausch mit den verantwortlichen
Lehrerinnen und Lehrern in den jeweiligen Schulen. Zusammen richten wir flexible, altersgerechte
Bildungsräume für ein intensives Zusammenleben von Lernenden und Lehrenden ein. Die von uns
entwickelten Lebens- und Lernräume verbessern die Lernerfolge und strahlen zusammen mit der
Architektur bestenfalls auch positiv in den Nahbereich des Schulstandortes aus. Ich spüre bei meinen
Besuchen aber auch, dass in vielen Schulen häufig noch mehr für das Unterrichten organisiert
wird und seltener etwas für das Lernen.

Und diese Situation können wir nicht einfach mit mehr Förderung verbessern, denn die derzeit größte
Herausforderung im Bildungsbereich ist der Mangel an qualifizierten Fach- und Lehrkräften - von der
Kita bis zur Berufsschule. Wenn man die politischen Reformvorhaben Ganztag, Inklusion und Unterstützung
von Kindern in herausfordernden sozialen Lagen einbezieht, sind es bis zu 158.700 ausgebildete Lehrkräfte,
die bis zum Jahr 2030 fehlen. Das Corona-Aufholprogramm und die Integration der Kinder aus der Ukraine noch
nicht eingerechnet.

Die Welt belohnt uns nicht mehr allein für das, was wir wissen, sondern für das, was wir mit dem,
was wir wissen, tun können.

IST SCHULE DANN NICHT EINE SIMULATION EINER REALITÄT, DIE ES SO NICHT MEHR GIBT?

Dieser Eindruck entsteht manchmal. Ich möchte das gerne begründen: Die Schulcurricula in den einzelnen
Bundesländern werden immer noch anhand eines standardisierten linearen Modells der Lernfortschritte entwickelt.
Aber in diesem System beginnen wir, viele Kinder bereits in der Grundschule zu verlieren. Die aktuelle Studie
<„IQB Bildungstrend 2021“ zeigt, dass
von den Viertklässlern bis zu 30 Prozent die Mindestanforderungen je nach Kompetenzbereich nicht erreichen.

(Anmerkung der Redaktion: Kompetenzbereiche im Fach Deutsch: „Lesen“, „Zuhören“ und „Orthografie“.
Kompetenzbereiche im Fach Mathematik „Zahlen und Operationen“, „Raum und Form“, „Muster und Strukturen“,
„Größen und Messen“ sowie "Daten, Häufigkeit und Wahrscheinlichkeit“.)

Wir leben heute in einer Welt, in der die Dinge, die leicht zu unterrichten und zu testen sind, auch leicht digitalisiert
und automatisiert werden können. Die Welt belohnt uns nicht mehr allein für das, was wir wissen, sondern für das,
was wir mit dem, was wir wissen, tun können. Deshalb benötigen wir Schulen, die demokratische Aushandlungsprozesse
ermöglichen und soziale Interaktion fördern. Das geht oft nicht in traditionellen Klassenräumen mit der derzeitigen
Mindestausstattung.

Was unterscheidet die Raumkonzepte von FLÖTOTTO?

Zusammengefasst: die inhaltliche und physische Qualität. Mit den von FLÖTOTTO gestalteten Lernräumen und -flächen wollen wir die menschliche Entwicklung fördern und zusammen mit den Schulträgern und
Lehrenden an Lösungen arbeiten, die das Lernen sinnvoll unterstützen. Wir wollen zum Handeln, Experimentieren und Staunen anregen sowie Freude und Gemeinschaft in den Schulen fördern.

Unsere neuen Konzepte für Lernräume und offene Lernflächen unterstützen Kinder und Jugendliche altersgerecht vom spielerischen Lernen in den unteren Jahrgangsstufen bis zum Deep Learning in
der Sekundarstufe II. Also Schülerinnen und Schüler, die ihr eigenes Lernen autonom gestalten können und sich mit Kreativität, kritischem Denken, Zusammenarbeit und Kommunikation vertraut machen. Dazu bieten wir verschiedene, aufeinander abgestimmte Lernumgebungen, die unterschiedliche Arbeitsweisen ermöglichen. Räume, die verändert oder auf unterschiedliche Weise genutzt werden können, um interdisziplinäre Pädagogik zu unterstützen. Mobile Möbel und verschiedene Oberflächenhöhen, die sowohl sitzende als auch stehende Aktivitäten ermöglichen. Größere und kleinere Raumkonstellationen
für unterschiedliche temporäre Settings auch mit weichen, gepolsterten Modulen, die den Boden als Arbeitsbereich einbeziehen.

Zusammen mit den mehrfach ausgezeichneten Designern und Bildungsexperten von wonderlabz haben wir große Fortschritte erzielt und unser sogenanntes Flex- Möbelprogramm umfassend weiterentwickelt.
Es wird Ende 2022 verfügbar sein. Die Gesamtschule Gießen-Ost und das Internat und Ganztagsgymnasium der Stiftung Louisenlund waren unsere Entwicklungspartnerund statten die Lernräume und offenen
Lernflächen in ihren Neubauten bereits damit aus.

Damit fördern wir bewusst und aktiv vielfältigere pädagogische Praktiken, und explorative, interaktive, spielerische und vertiefte Lernerfahrungen.

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FLEX: Tribüne, Arbeitsplatz und Treppe

Für unsere Einrichtungskonzepte nutzen wir intensiv die Erkenntnisse der Affordanztheorie. Entscheidend sind die Qualitäten, die wir mit Räumen, Objekten und Menschen schaffen. Erst durch sie werden Lehr- und Lernaktivitäten sowie bestimmte Verhaltensweisen ermöglicht. Vereinfacht gesagt: Die Dinge im Raum sagen uns dadurch, wie wir sie wahrnehmen, was wir mit ihnen tun sollen; sie haben einen Aufforderungscharakter. Die Fähigkeit, Affordanzen wahrzunehmen und zu nutzen, hängt von den Absichten des Lehrenden oder Lernenden ab und wird von deren individuellem Hintergrund, deren sozialem Umfeld und deren Kultur beeinflusst. Damit fördern wir bewusst und aktiv vielfältigere pädagogische Praktiken, die explorative, interaktive, spielerische und vertiefte Lernerfahrungen in Schulen erst möglich machen. Wir ermutigen die Lehrenden und Lernenden kritischer und kreativer über die Beziehung zwischen Pädagogik und Raum nachzudenken und ihre Lernumgebung mitzugestalten.

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WIE KÖNNEN WIR DIE SCHULEN ZUKUNFTSFÄHIG MACHEN?

Wir wissen, dass Schulleitungen mehr Autonomie und Gestaltungsfreiheit wollen. Sie wünschen sich eine umfassendereEntscheidungsbefugnis bei der Personalauswahl, Mittelverwendung sowie Organisationsund
Unterrichtsentwicklung. Viele Schulleitungen wollen weg von der „Flurschule“ hin zu innovativen, flexiblen und offenen Lernräumen. Aus meiner Sicht kommen wir an einen Punkt, an dem wir gesellschaftspolitisch
über die Neuorganisation von Schule sprechen sollten. Klassenverbände sind heute willkürlich zusammengewürfelte Schicksalsgemeinschaften, in denen Alter und Wohnort die entscheidenden Kriterien sind. Talente, Wissen, Fähigkeiten und Kompetenzen spielen bei der Zusammenstellung einer Klassengemeinschaft leider keine Rolle. Erkennen wir die Unterschiedlichkeit der Schülerinnen und Schüler an, fördern wir deren individuelles Lernen in ihrem persönlich möglichen Tempo, übergeben wir ihnen achtsam Schritt für Schritt die Verantwortung für den eigenen Lernweg. Damit können wir die Systeme in Schulen entlasten, die Rolle der Lehrenden weiterentwickeln und das Zusammenleben in Schulen verbessern. Die traditionellen Klassenräume sollten sich öffnen und mit offenen Lernflächen kombiniert werden. Die Beispiele der Schulen, die sich bereits auf den Weg gemacht haben, beweisen das und machen Mut.

es reicht nicht mehr tische und stuehle raeume zu stellen

Schulen sind doch im besten Sinne des Wortes lernende Organisationen. Für die Weiterentwicklung der Schulen benötigen wir die impliziten Fähigkeiten der Lehrerinnen und Lehrer.

Schulen sind doch im besten Sinne des Wortes lernende Organisationen. Für die Weiterentwicklung der Schulen benötigen wir die impliziten Fähigkeiten der Lehrerinnen und Lehrer. Die OECD empfiehlt, das Lernen nicht mit Instruktion und Bewertung gleichzusetzen, sondern vor allem mit Kokonstruktion. Das bedeutet, dass Lehrkräfte und Schülerinnen und Schüler im Lehr- und Lernprozess zu gemeinsamen Gestaltern werden. Die Schulfamilie und das kommunale Umfeld sollten zusammen daran arbeiten, den Kindern und Jugendlichen zur Verwirklichung ihrer gemeinsamen Ziele zu verhelfen. FLÖTOTTO unterstützt diese Entwicklungen mit all seinen Möglichkeiten.

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WIE BLICKEN SIE ABSCHLIESSEND AUF DIE ZUKUNF DER BILDUNG?

Unsere Zukunft als Menschen ist ja nicht vorbestimmt, wir haben es in der Hand, wie sich die Dinge auch
in den Schulen entwickeln. Jedes Kind sollte deshalb die Erfahrung von Selbstwirksamkeit in der Schule
gemacht haben. Von der Zukunft her denken bedeutet nichts anderes, als eine wünschenswerte Zukunft
zum Maßstab unseres Handelns von heute zu machen. Viel zu häufig gehen wir bei Entwicklungsprojekten
im Bildungsbereich nur von unseren Erfahrungen und unserem erlernten Wissen aus der Vergangenheit aus.
Wir sollten uns viel mehr von der Zukunft erhoffen und sie erträumen.


Vielen Dank für das Interview.