Stiftung Louisenlund. Lernen ohne Klassenräume.

FLÖTOTTO - Stiftung Louisenlund. Lernen ohne Klassenräume.

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Über das Ende der Fabrikschule und den Mut, Schule vom Lernen her zu denken. Interview mit Dr. Peter Rösner, Leiter der Stiftung Louisenlund.

Herr Dr. Rösner, die Wirtschaft fordert aktuell, radikal in Bildung zu investieren, um Deutschland wieder wettbewerbsfähig zu machen. Müssen wir Bildung komplett verändern, um junge Menschen angemessen auf exponentiellen Wandel, Unsicherheiten – aber auch stärkere Konkurrenz in den Arbeitswelten vorzu­bereiten? Muss ein radikales Umdenken in der Bildung stattfinden?

Als Leiter der Stiftung Louisenlund bin ich überzeugt, dass ein radikales Umdenken im deutschen Bildungssystem nicht nur notwendig, sondern unausweichlich ist, wenn wir junge Menschen ernsthaft in der Entwicklung ihrer individuellen Persönlichkeit und ihrer sozialen sowie fachlichen Kompetenzen unterstützen möchten.

Die Schülerinnen und Schüler möchten zu Recht von ihrer Schule und diesem Land auf die Herausforderungen und Chancen komplexer Veränderungen, wachsender Unsicherheiten und der zunehmenden Konkurrenz durch KI-Systeme in der Arbeitswelt vorbereitet werden. Sie möchten als Menschen widerstandsfähig, optimistisch und erfolgreich an den Entwicklungen der Zukunft teilhaben und ihr Leben selbst gestalten können. Sie möchten Verantwortung für das eigene Lernen übernehmen können. Die Schule sollte dazu befähigen können. Deshalb fordern der Stifterverband und die deutsche Wirtschaft neben anderen zu Recht eine Neuausrichtung der Bildung in Deutschland.

Das traditionelle Bildungssystem, das immer noch von gleichen Voraussetzungen und Bedürfnissen der Lernenden ausgeht, ist in starren Strukturen und veralteten Lehr- und Lernmethoden verhaftet. Es wird den Anforderungen der heutigen Zeit kaum noch gerecht. Wenn dann grundlegende Erfolgsfaktoren wie eine ausreichende Anzahl gut ausgebildeter Fach- und Lehrkräfte in Kitas und Schulen oder zeitgemäße Bildungsbauten seit vielen Jahren nicht bedarfsgerecht vorhanden sind, läuft etwas schief in diesem Land.

Die Situation in den Schulen hat sich im Vergleich zu unserer eigenen Schulzeit radikal verändert. Deutschland ist inzwischen eines der Top-Einwanderungsländer dieser Welt. Der Anteil der Kinder mit Migrationshintergrund in Schulen liegt durchschnittlich bei 40%, in vielen Schulen deutlich darüber. Wie reagieren wir auf diese Superdiversität im Schulsystem? Zurzeit mit steigender Überforderung und sich zunehmend verschlechternden Rahmenbedingungen.

Die Bundeswehr soll kriegsfähig werden, die Schulen müssen wieder bildungsfähig werden. Die Zeitenwende betrifft auch das Lernen in Deutschland. Leider haben die Kinder keine große Lobby. Deshalb freue ich mich sehr, dass sich sehr langsam ein breiter gesellschaftlicher Konsens bildet, der den leider notwendigen Veränderungsdruck erzeugt.

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In der Schule sollte es nicht nur um Wissensvermittlung, sondern vor allem auch um Persönlichkeitsentwicklung gehen. Darum, eigenständig, zukunftsorientiert und kreativ darüber nachzudenken, wie mit Herausforderungen umzugehen ist. Kreativität, Vorstellungskraft, kritisches Denken, Umgehen mit Komplexität – welche Form braucht Schule, um diese Kompetenzen zu vermitteln – und wie haben Sie diese Komplexität am Beispiel von Louisen­lund gelöst?

In der Tat steht die Schule vor der Heraus­forderung, nicht nur dringend notwendiges Wissen, Fähigkeiten und Kompetenzen zu vermitteln, sondern auch die individu­elle Persönlichkeitsentwicklung zu fördern. Die jungen Menschen sollen und wollen eigenständig, zukunftsorientiert, kreativ und verantwortungsvoll mit Herausforderungen umgehen können. In Louisenlund haben wir diese Aufgabe als Schulträger angenommen und ein Bildungskonzept entwickelt, das nicht vom Lehren, sondern vom Lernen her gedacht und organisiert ist.

Entscheidend ist unser Verständnis von Schule. Sie ist für uns ein lebendiger, sich ständig weiterentwickelnder, lernender Organismus, der über die traditionellen Grenzen von Klassenräumen und festen Klassen­strukturen hinausgeht. Sie ist kein Ort der Bewertung, sondern der Entwicklung. Ko­operationen mit Wissenschaft, Wirtschaft ­und Kultur bereichern das Schulleben und schaffen Realitätsnähe – sowohl für Lehrende als auch Lernende. Unsere speziell für die Pädagogik konzipierten Schulgebäude mit großen offenen Lernflächen sind so gestaltet, dass sie die Zusammenarbeit, den Austausch und die kreative Auseinandersetzung mit Lerninhalten fördern, aber auch konzentriertes Arbeiten ermöglichen. Schule ist ein spannender Ort der Begegnung und der ­Vielfalt. Diese räumliche und organisatorische Flexibilität fordert unser pädagogisches Konzept, das kompetenzorientiert ist und die Vielfalt, sowie das personenzentrierte Lernen in den Mittelpunkt stellt.

In Louisenlund verstehen wir Lernen als einen ganzheitlichen, werteorientierten Prozess, der kognitive, physische, soziale und mentale Herausforderungen beinhaltet. Wir respektieren die Einzigartigkeit jedes Lernenden und fördern sie als Teil der Gemeinschaft. Kritisches Denken, problemlösendes Arbeiten, Kommunikation, Kollaboration, Informationskompetenz, der Umgang mit digitalen Medien und das Verständnis, Teil der Louisenlunder Gemeinschaft zu sein und Verantwortung zu tragen, sind integraler Bestandteil unserer Pädagogik, die ihren Ursprung in der Erlebnis­pädagogik der 1950er Jahre hat. Die Schülerinnen und Schüler lernen, in allen Dimensio­nen des Lebens zu agieren und können sich ausprobieren. Die Rolle der Lehrenden und Mentoren verändert sich dadurch nachhaltig. Sie wird anspruchs- und verantwortungsvoller,­ aber auch bereichernder. Lehrende sollten die berufliche Avantgarde in diesem Land werden. Sie sollten Change Agents am Puls des Wandels sein, die jungen Menschen in einer entstehenden Zukunft Orientierung geben können.

In Louisenlund befinden wir uns in einem kontinuierlichen Prozess, der diese Prinzipien in die Praxis umsetzt und ein Bildungsumfeld schafft, das nicht nur auf die Vermittlung ­von Wissen ausgerichtet ist, sondern auch darauf, junge Menschen zu befähigen, kreativ und kritisch zu denken, Komplexität zu navigieren und aktiv an der Gestaltung ihrer eig­enen Zukunft und der unserer Gesellschaft mitzuwirken.

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Nach einer Umfrage der Körber-Stiftung glauben drei Viertel der Eltern, dass Noten Leistungen nicht angemessen abbilden können; knapp die Hälfte plädiert dafür, das bestehende Notensystem abzuschaffen. Aber wie kann man Motivation, Begeisterung und Eigenwirksamkeit bei Kindern erreichen: Sind feste Lehrpläne und Schulnoten noch zeitgemäß?

Diese Umfrageergebnisse spiegeln ein wachsendes Bewusstsein in der Gesellschaft wider, dass traditionelle Bewertungsmethoden wie Noten die Leistungen und Fähigkeiten von Schülerinnen und Schülern nicht angemessen abbilden können. Diese Erkenntnis unterstreicht die Dringlichkeit, unsere Ansätze in der Bildung zu überdenken, insbesondere im Hinblick auf Motivation, Begeisterung und das Gefühl der Selbstwirksamkeit bei Kindern. In Louisenlund haben wir uns dieser Herausforderung gestellt, indem wir ein Bildungs­umfeld geschaffen haben, das über feste Leh­r­pläne und Schulnoten hinausgeht.

Unser Ansatz basiert auf der Überzeugung, dass Bildung individuell, kompetenzorientiert und auf die Entwicklung der gesamten Persönlichkeit ausgerichtet sein sollte. Anstatt Schülerinnen und Schüler nur durch ein starres Notensystem zu bewerten, berücksichtigen wir auch individuelle Lernfortschritte, die Entwicklung von Kompetenzen und das Erreichen persönlicher Ziele. Dieser Ansatz fördert nicht nur die intrinsische Motivation und Begeisterung für das Lernen, sondern stärkt auch das Selbstbewusst­sein und das Gefühl der Selbstwirksamkeit. Studien zeigen, dass eine Bewertung, die auf persönlichem Fortschritt und Kompetenz­erwerb basiert, positive Auswirkungen auf die Lernmotivation und das Engagement der Schüler hat.

In Louisenlund setzen wir diese Erkenntnisse um, indem wir auf der Grundlage der Lehrpläne und Fachanforderungen des Landes Schleswig Holstein auch ein ergänzendes außerschulisches Lernen und ein vielfältiges Internatsleben in einer internationalen Ge­meinschaft anbieten können. Unsere Schülerinnen und Schüler werden ermutigt, in allen Dimensionen des Lernens zu experimentieren und zu wachsen. Das gilt natürlich auch für die Lehrerinnen und Lehrer unserer Kollegien in den unterschiedlichen Schulformen. Diese pädagogische Herangehensweise ermöglicht es, dass Schülerinnen und Schüler ihre eigenen Lernpfade erkunden und gestalten können, was die Grundlage für eine tiefe, bedeutungsvolle Bildung schafft.

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Vielen Dank für das Interview.